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Dorfkultur

Morgendlicher Kaltstart im Bungalowdorf – was wir daraus lernen können

Viele werden die Diskussion in der facebook-Gruppe des Olympiadorfes mitbekommen haben: von gestern auf heute fiel in einem Bereich des olympischen Dorfs komplett Heizung und Warmwasser aus. Kälte ist immer unangenehm, noch unangenehmer aber ist sie, wenn es in der wohl kältesten Nacht nicht nur des Jahres (denn das wäre noch keine so große Leistung), sondern der vergangenen Monate passiert. Bekannte Tageszeitungen hätten daraus wahrscheinlich wunderbare Schlagzeilen basteln können. Ich stelle mir zum Beispiel die Abendzeitung mit einem Foto vorwurfsvoller Studentengesichter vor ihren Bungalows vor, darüber: „Totalausfall! So überlebten wir die kälteste Nacht des Jahres“. Politischer noch die Bild-Zeitung: „Flüchtlinge leben luxuriöser als Deutschlands Studenten! Hat Merkel versagt?“
Tatsächlich aber passierte – nichts. Im doppelten Sinne. Denn am nächsten Morgen war das Problem wieder behoben, und zurück blieben entrüstete Kommentare in der facebook-Gruppe, was man denn tun könne und ob nicht wer die Hausmeister oder das Studentenwerk informieren sollte. 46 Postings und Kommentare gab es insgesamt, allerdings rief dann tatsächlich nur einer nach Stunden die Notrufnummer der Hausmeister an, die vorher sogar von einem weiteren Kommentierenden herausgesucht und veröffentlicht wurde. Die Verwaltung des Olympiadorfes bestätigte mir auf Nachfrage, dass sie insgesamt nur zwei E-Mails zu dem Problem bekam.
Da sitzt also der gesamte Bereich in der Kälte, kann weder warm duschen noch heizen, und fast niemand geht zum Studentenwerk oder meldet sich bei den Hausmeistern. Stattdessen gehen alle ins Internet und beschweren sich in einer internen facebook-Gruppe, was tatsächlich die ineffektivste aller Lösungen (im Grunde eigentlich sogar keine Lösung) ist. Gibt es dafür eine Erklärung?

Die gibt es tatsächlich und kommt aus der Psychologie. Viele beschweren sich bzw. bezeugen etwas das unangenehm ist, keiner tut etwas dagegen – dieses Phänomen nennt sich „Zuschauereffekt“ und existiert in vielfachen Ausprägungen. Eine Studie beispielsweise machte ein Experiment aus einer Freibad-Situation: jemand lässt seine Tasche unbeaufsichtigt auf der Liegewiese. Während er/sie schwimmen geht, kommt ein Fremder und nimmt die Tasche mit. Greifen die anderen Gäste im Freibad ein? Der Zuschauereffekt zeigt: je mehr Menschen den Vorfall beobachten, desto geringer ist die Chance, dass jemand interveniert. Wenn die Liegewiese dagegen fast leer ist und nur drei andere Gäste da sind, wird der vermutliche Dieb angesprochen und zur Rede gestellt.
Dieses Szenario lässt sich leider auf schlimmere Situationen übertragen. Fällt zum Beispiel nach dem Oktoberfestbesuch eine Angetrunkene hin und bleibt liegen, werden ihr umso weniger Menschen helfen und den Notarzt rufen, je mehr Menschen noch gerade in der Nähe sind. Mobbing und Gewalt unterliegen den selben Gesetzlichkeiten.

Wie kommt es zu diesem seltsamen Effekt? Wichtige Stichwörter dazu sind „pluralistische Ignoranz“ und „Verantwortungsdiffusion“. Du beobachtest, wie der Fremde die Tasche im Freibad mitnimmt/ wie niemand der Frau auf der Theresienwiese hilft, und denkst dir: „Ach so, die anderen greifen auch nicht ein, vielleicht ist die Situation gar nicht so schlimm wie sie ausschaut.“ Das denken sich die anderen ebenfalls, was zu pluralistischer Ignoranz führt. Bei Verantwortungsdiffusion dagegen geht der Gedanke so: „Ach so, da schauen gerade so viele zu, jemand wird schon was dagegen tun. Meine Hilfe wird nicht gebraucht, da sind ja genügend andere.“

Das ist die Theorie, die auch bei der Erklärung des Zuschauereffekts im Olympiadorf greift. 46 Kommentare über den Ausfall der Heizung, irgendjemand wird doch wohl die Hausmeister informiert haben? Ein gesamter betroffener Bereich und viele Beschwerden im Internet bedeuten auch: die eigene Verantwortung nimmt subjektiv ab; sie wird jetzt auf viele Verantwortliche verteilt.
Leider haben alle anderen dieses Gefühl auch, und im schlechtesten aller Fälle informiert deswegen gar niemand die Hausmeister, das Studentenwerk erfährt niemals von dem Heizproblem und es bleibt tagelang kalt.

Als Lektion bleibt also: bei mehreren Betroffenen muss man immer damit rechnen, dass der Zuschauereffekt eintritt. Falls also demnächst Bungalowdächer aufgrund der Schneemassen einstürzen, der Strom ausfällt oder unerwartet eine Wespenplage eintritt: lieber selber tätig werden und die Verwaltung informieren, anstatt Verantwortungsdiffusion und Zuschauereffekt den Vortritt zu lassen.

Literaturverzeichnis

Zuschauereffekt (engl. „bystander effect“) funktioniert genauso bei Cyber-Mobbing:
Machackova, Dedkova, Mezulanikova: „Brief report: the bystander effect in cyberbullying incidents“. In: Journal of Adolescence (43). 2015. 96-99.

Mit UB/StaBi-Konto online lesbar unter:
https://www.sciencedirect.com.sciencedirect.emedia1.bsb-muenchen.de/science/article/pii/S0140197115001049

Das ‚Mentors in Violence Prevention Model‘ hilft dabei, den Zuschauereffekt z.B. bei Gewalt auf dem Schulhof zu reduzieren:
Katz, Heisterkamp, Fleming: „The social justice roots of the Mentors in Violence Prevention Model and its application in a high school setting“ (Special Issue: Engaging Communities to End Sexual Violence: Current Research on Bystander Focused Precention). In: Violence Against Women (17). 2011. 684-702.

Mit UB/StaBi-Konto online lesbar unter:
https://vaw.sagepub.com.sagepub.emedia1.bsb-muenchen.de/content/17/6/684

Diese Studie untersucht, wie man den Zuschauereffekt bei sexueller Gewalt gegen Frauen reduzieren kann:
Bennett, Banyard, Garnhart: „To Act or Not to Act, That is the Question? Barriers and Facilitators of Bystander Intervention“. In: Journal of Interpersonal Violence (29). 2014. 476-496.

Mit UB/StaBi-Konto online lesbar unter:
https://jiv.sagepub.com.sagepub.emedia1.bsb-muenchen.de/content/29/3/476