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Zeitgeschichte

Eine außergewöhnliche Zeit – ein Ureinwohner erinnert sich

Vergangenheit verklärt? In diesem Fall wohl nicht, denn ich erinnere mich sowohl an die Licht- als auch an die Schattenseiten meiner Zeit im Olydorf.

Mit der ersten Dauerbelegung konnte ich gleich nach den Olympischen Spielen 1972 ins Olydorf einziehen, in dieses neuartige und einmalige Wohnmodell für Studenten. „Meine“ Gasse E 03 nannten wir wenig später „Canossagang“, weil uns der Gang aus unseren Bungalows heraus an die Uni ähnlich schwerfiel wie Heinrich IV. anno 1077 der Gang nach Canossa.

Das Leben im Dorf war tatsächlich so bunt, so faszinierend, so kommunikativ für uns, die wir fast ausnahmslos aus einsamen (möblierten) Studentenbuden kamen, der Aufbau einer studentischen Selbstverwaltung und der Geschäftsbetriebe so spannend und zeitintensiv, dass das Studium hintangestellt wurde. Es tangierte uns nicht, dass die Wohnzeit begrenzt, das BAföG befristet und die Regelstudienzeit gerade eingeführt waren. Wir lebten wie in einer anderen Welt und kosteten dies voll aus.

Ob es den speziellen Dorftyp gab? Wohl eher nicht, denn die Wohnsituation für Studenten war damals extrem schlecht und das Dorf bot plötzlich für Viele Platz. Sicherlich wäre ein überzeugter WG-Bewohner niemals ins Dorf gezogen, ebenso wenig ein überzeugter (wie finanziell eingeschränkter) Wohnheim-Zimmer-Bewohner. Aber wenn man schon von typischen Dorfbewohnern sprechen will, so gab es zumindest zwei Gruppen, nämlich die Hochhaus- und die Bungalow-Bewohner.

Von Letzteren, der kommunikativeren Spezies, ist hier die Rede. Sie erkannte man auch beim Waschen unten in Haus B, denn sie benutzten nie einen der beiden urweltlichen, noch mit Gas betriebenen Trockner. Sie hatten einen Balkon und den nicht nur zum Wäschetrocknen. Sobald sich die Sonne zeigte, war man dort zu finden und die Gegenüber und Nachbarn eben auch. Kommunikation war da, selbst für die Wortkärgsten, unumgänglich und mehr als das, was man sich in den dunklen Hochhausfluren maximal zuraunte. So ließ uns auch die Notfallübung im Hochhaus ziemlich kalt, bei der man durch einen neuartigen Rettungsschlauch ganz oben von Haus A hinunterrutschen konnte. Leider kam es viel zu häufig vor, dass dieser – ohne Hilfsmittel letale – Abgang als letzter Ausweg gesehen wurde.

Wenn es richtig heiß wurde, lud das Bungalow-Dach ein, dessen Betreten laut Hausordnung verboten war – vom Beliegen war nicht die Rede … So lag eines schönen Sommer-Sonnentages eine Bewohnerin hüllenlos, aber eben unsichtbar, da oben und genoss südliches Flair mit dem obligaten Rotwein. Als sie ein menschliches Bedürfnis verspürte, kletterte sie mit der gerade angezündeten Zigarette von ihrer „Sonnenbank“ und wollte nur noch die Zigarette vor der Haustür ablegen, bevor sie in die nicht zigarettenresistente Nasszelle ging. Ein letzter Zug – da fiel die Haustür zu … und Nichts hat halt auch keine Taschen für einen Schlüssel. Glücklicherweise war der Nachbar da, der über das Missgeschick herzhaft lachte und – ganz Kavalier – der Frau Nachbarin gestattete, über den Balkon zu klettern und das Drama so zu beenden.

Mich verband mehr mit meinem Gegenüber – und das war nicht wetterabhängig, denn man sah sich vom Schreibtisch auf dem Arbeitsbalkon aus, sah aber auch sein Gegenüber ebenso unlustig am Schreibtisch sitzen … Wenig später traf man sich zum Frühschoppen, auf ein Käffchen, zum Five o’Clock Tea oder zu einer Brotzeit. Oft genug tat man sich, spontan oder geplant, oft gassenübergreifend, zusammen zum gemeinsamen und arbeitsteiligen Kochen und Essen. Mehrgängige Menus wurden so möglich. Nur Überbackenes ging nicht, weshalb ich mich – leider erfolglos -–als Tutor für die Einrichtung einer Backstube einsetzte.

Die Bierstube sorgte dann für den Absacker, die Disco für die nötige Bewegung und Bettschwere. An einen Seminarbesuch am bürgerlichen Vormittag war kaum zu denken. Die Dorfuhren gingen eben anders.

Georg, mein Gegenüber im „Ganglion“ C 03, und ich haben dann kurzerhand unsere Bungalows mit einer Hängebrücke aus alten Bergseilen und Skiern verbunden – das Fahrrad „parkte“ ohnehin schon dort in luftiger Höhe –, was uns sogar ins „Blättle“ (Anm. d. Red.: Dorfbladl) brachte und noch mehr Besucher eintrug. Unser „Ganglion“ war dann auch eine der ersten Gassen, in der die Bemalaktion ein Gemeinschaftswerk war, sprich jede Seite hatte ein durchgehendes Design. Das war nicht so ganz gelungen – Kunst ist halt selten ein Kollektivprodukt.

Sehr bald wurden die Touristen lästig, zumal wenn sie läuteten, fragten, welcher Athlet hier gewohnt habe, und schließlich mehr oder weniger massiv Eintritt forderten. Wir wehrten uns, indem wir zu Papier und Bleistift griffen und um die Adresse baten, damit wir bei Gelegenheit auch ihre Wohnung inspizieren könnten. Da machten sie sich ganz schnell von dannen.

Wie sehr das Dorf zu einer „normalen“ Kommune wurde, spätestens ab dem Moment, als dieser Gründer- und Aufbauenthusiasmus abflaute, zeigte sich auch daran, dass es zu Eifersüchteleien, Spannungen, Gassen- und Gruppenfehden bis hin zu Denunziationen und – damals noch nicht unter dem Namen bekannten – Mobbing kam. Gründe bzw. Anlässe gab es zunehmend: die Geschäftsbetriebe liefen gut und die Faschingsbälle – zu denen ich das Plakat bastelte – schwemmten zusätzlich Geld in die Kasse des Vereins, der damit auch all die Thekenkräfte, Türsteher, DJs, Putzleute, Helfer etc. anständig und oft umsatzbeteiligt bezahlen konnte. Das weckte Futterneid und es wurden Vetterleswirtschaft und Parteilichkeit bei der Jobvergabe unterstellt oder Manipulation bei der Abrechnung, stimmte diese mal ganz genau. Grau- und Schwarzbewohnen und illegale Untervermietung sorgten für weiteren Zündstoff, zumal die Mitarbeit der Tutoren mit Wohnzeitverlängerung honoriert wurde – ein Dorn im Auge der Nichtgewählten und deren Anhänger. Andere schufen mit einem Hochbett die Voraussetzung für den Zuzug des Partners – und verdoppelten dadurch ihre Wohnzeit. Erstaunlich viele dieser Beziehungen gingen just in dem Moment auseinander, als die Enge und der Rahmen des Studentendorfes wegfielen. Andererseits hat sich mancher Kontakt, manche Freundschaft und Beziehung auch als sehr langlebig erwiesen.
Schreinerwerkstatt im Mensagebäude gefertigt – neben dem Ausbau von alten VW-Bussen zu Camping- und Expeditions-Fahrzeugen. Eingebaut wurden sie in dem offenen Teil über der Küche und dem Essplatz, was den Raum unter dem Arbeitsbalkon völlig zur Höhle werden ließ, dafür aber oben eine opulente Liegefläche bot. Der Weg aus dem Bett führte nun direkt am Schreibtisch vorbei, an dem man tatsächlich öfter „hängenblieb“.

Mein „Hoch“-Bett, damals nach demselben Muster gebaut, war nie in einem Bungalow installiert. Es ist normal hoch und begleitet mich seither, wenn es auch bei jedem Umzug Probleme aufwarf, da es irre sperrig und schwer ist. Aber es schläft sich gut darin – oder besser: darauf – und ich träume noch manchmal von der Dorfzeit.