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Anderswo

Effective Altruism

Die Gesellschaft baut sich ab.
Wie können wir helfen und uns dabei besser einsetzten?

Einmal war ich obdachlos im eigenen Treppenhaus.

Ich ging die Tür hinein, doch war noch gar nicht zu Hause angekommen. Ja, ich musste erstmal die Treppe hochgehen.           
Ein ganz alltägliches „Problem“, das wir alle mal erlebt haben.       
„Einfach“ den Aufzug nehmen. „Problem“ gelöst. Doch für den erfahrenen Dorfbewohner der Höhen mag vielleicht diese etablierte Selbstverständlichkeit nicht immer so einfach zu genießen gewesen sein.          
Wie viele Kaffeetassen haben sich bitte nicht damals um dieses herzerregende Thema versammelt? Wie viele von uns standen auch bitte nicht unter Koffeineinfluss beim Erklimmen der Treppen?     
Kaffee scheint ganz wohl ein Wundermittel unserer Gesellschaft zu sein, der bittererweise mit dem Erwachsen-werden auf einmal süß wird. Denn wie vielen Kindern, Armen, Obdachlosen, kranken Menschen hätte man doch nicht mit diesem unersetzlichen 3 EUR Cappuccino auf der anderen Seite der Welt geholfen!? Oder? 
Genau dem vermutlich effektivsten 3 EUR Cappuccino der Welt widmen wir uns in diesem Artikel. Effective Altruism: von den Höhen unseres Dorfes geschrieben, durch den langen Treppenweg dorthin inspiriert.     

„Einfach“ den Aufzug nehmen. „Problem“ gelöst.        

Einige haben es bei uns auf Erden stets gar nicht so einfach.         
Einige Gebäude unserer Gesellschaft oder besser einige gesellschaftlichen Strukturen bieten eben den Menschen, die sie bewohnen keine „Aufzüge“ an. Keine Frage, warum sich keiner für solche „Strukturen“ interessieren würde. Aber noch schlimmer wäre es, sich nicht für die Menschen zu interessieren, die diese beleben.
Nicht nur dieses theoretische Gebäude, sondern gerade das Leben dort und die fehlende Menschlichkeit zu ignorieren oder gar zu banalisieren.

Denn sie stehen nicht still da am Horizont. Ganz im Gegenteil; diese Gebäude gesellschaftlicher Ungerechtigkeit sind laut. Sie entstehen; und bleiben oft bestehen.           

Genau so war es auch, als ich zum ersten Mal mit vollem Gepäck – und auch voller Hoffnung – ankam und diese roten Nummern neben dem Aufzug stillstehen sah.

So fängt man als Student langsam wirklich an, eher die Menschlichkeit dahinter, als die Nummern hinter einer „Armutsstatistik“ zu verstehen; oder man versucht es zumindest.     
                       
Denn wie kann es denn bitte sein, dass nach einer 1 keine 2 kommt, sondern ein rotes „AUSSERBETRIEB“.

Man ist öfters philosophisch unterwegs, wird mutiger der Realität gegenüber, hat vielleicht sogar selbst Ungerechtigkeit erlebt; kurzum man fühlt einfach mehr mit. Man ist nach Außen bewusster. Und dieses Mitfühlen wird auch nach Innen prägender.

Konsequenterweise wollen einige auch dann stärker denjenigen Menschen helfen, von denen man auch merkt, dass sie es schwieriger haben. Von denen man weiß, dass sie bedroht, krank, hungrig, verlassen sind. Menschen von denen helfen, die nie einen „Aufzug“ teilendurften und chancenlos sind in unserem eigenen „Treppenhaus.

Doch allein die persönliche Bereitschaft zu helfen und die ggf. dazu notwendigen Mittel lösen die Gleichung nicht bestmöglich. Woran es scheitert, können wir z. B. an unserem vorherigen Gedankenexperiment erkennen.

Wenn es unser Ziel ist, möglichst vielen Menschen bei ihrem Aufstieg in diesen ungerechten gesellschaftlichen Strukturen zu helfen, dann sollten die Aufzüge möglichst selten kaputt gehen, da wir sonst ständig Mittel für die Reparatur ausgeben würden, die bei anderen Aufstiegsmöglichkeiten in hilfsbedürftigeren „Gebäuden“ sinnvoller eingesetzt werden könnten. Wiederum wäre es auch sinnlos, in einen teuren Aufzug aus Glas mit Desinfektionsmittelspender, Touchscreens und Boxen zu investieren, wenn der andere bereits gut funktioniert. Nicht wirklich vieles wäre damit erreicht. Das Geld wäre woanders dringender gebraucht und/oder besser investiert worden.  

Ein in der echten Welt und von Peter Singer (Autor von „The life you can save“) in seinem Buch und Vorträgen vorkommendes Beispiel:       
Während für die Ausbildung eines einzigen Blindenführhundes und ihres zukünftigen Halters in einem Industrieland ca. $ 50.000 aufzuwenden wären[1], könnte man mit den gleichen Mitteln und Behandlungskosten, die zwischen $ 20 bis $ 50 p. P[2] liegen zwischen 1000! und 2000! an Trachom oder Glaukom erkrankte Menschen in Entwicklungsländern operieren, um sie überhaupt vor Erblindung zu schützen oder sogar zu heilen. Natürlich sind alle Hilfsorganisationen immer! förderungswürdig, allerdings sind sie sehr unterschiedlich. Einige können mehr Menschen erreichen, andere gehen noch dazu effektiver mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln um. Und ja, auch ein paar könnten in Wirklichkeit mit ggf. mehr Spenden nicht mehr viel effektiv Gutes erreichen (Fall Aufzug mit Desinfektionsmittelspender). Beispiele gäbe es natürlich mehr, es geht aber an sich nur darum, die zu spendenden Mittel (meistens Zeit und/oder Geld) effektiv einzusetzen, sodass sie die möglichst größte Wirkung erzielen können.     
Das ist das Ziel, das sich die soziale Bewegung des „effektiven Altruismus“ zu Herzen genommen hat und deren Befürworter sich darum bemühen, Herz und Kopf (sprich: rationales und quantitatives Denken) zugunsten dieses Vorhabens anzuwenden.

Giving ist natürlich schon ein Schritt, Giving well sind gleich mehrere Schritte     

Und giving well muss nicht unbedingt so schwer sein, denn es gibt beispielsweise eine besondere Non-Profit-Organisation, die wissenschaftlich fundierte Recherche betreibt und veröffentlicht, um jene Spendenmöglichkeit (Programme, Hilfsorganisationen, Stiftungen usw.) in ihrer realen Wirkung per US-Dollar auszuwerten. Und sie heißt (auch online), wer hätte es gedacht, GiveWell (https://www.givewell.org).

Doch das Hauptziel ist bei weitem nicht die Auswertung zahlreicher Spendenmöglichkeit! Das ist eigentlich nur das Mittel.   
GiveWell ist nicht nur dafür da, Studien auf einer Webseite zu verbreiten, mit der vagen Hoffnung, dass sich ein paar Wenige finden lassen, die sie überfliegen. Erreichen möchte GiveWell vielmehr die praktische Anwendung des von ihnen selbst erarbeiteten oder gesammelten wissenschaftlichen Wissens, nämlich, dass wir Spender bessere Entscheidungen treffen, wenn es um die Förderungsauswahl geht.

Demensprechend erstellen sie in regelmäßigen Abständen Listen der sog. „Top-Charities“, die sich hinsichtlich vier Kriterien (Wirksamkeitsbeweise, Kostenwirksamkeit, Transparenz und „Raum“ für mehr Finanzierung) als besonders förderungswürdig erweisen.[3] Die aktuellen „Top-Charities“ befassen sich u.a. mit der Vorbeugung von Malaria (durch sog. Saisonale Malaria-Chemoprävention und Insektennetze) sowie Vitamin-A-Ergänzungszugabe und Unterstützung von Entwurmungsprogrammen v.a. in Afrika und Asien. Alle drei Krankheiten, die die Kindersterblichkeitsrate erheblich erhöhen und tatsächlich mit für uns erschwinglichen Mitteln vermieden/behandelt werden können.

Sind wir alle nicht etwa als Studenten Experten der Kosten-Nutzen-Analyse? Minutenlang scrollen wir durch Onlineshops auf der Suche nach dem besten Modedeal, um unseren ohnehin schon vollen Schrank zu füttern. Umso mehr sollten wir uns also um die Effektivität der möglichen Spende kümmern!                

Damit lässt sich aber auch zur nächsten Initiative überleiten, die sich mit der zweiten Ressource befasst, die wir für eine Verbesserung unserer Welt einsetzen können. Denn nicht nur mit Geld kann man Gutes erreichen, sondern auch mit Zeit.   

„Eine typische Karriere erstreckt sich über 80.000 Stunden“.[4]         

Schon wieder ein aufschlussreicher Name. 80,000 hours (https://80000hours.org). Sie ist auch eine gemeinnützige Organisation, die sich darum bemüht, Menschen (insbesondere junge Menschen) Karrieretipps zu geben und zu beraten. Dies mit dem Ziel, dass jeder innerhalb dieser 80,000 hours einen wesentlichen Unterschied für die Gesellschaft voranstrebt und zwar nicht zwingend mit der direkten Geldspende, sondern mit dem, was jeden Einzelnen ausmacht. Entsprechend groß und ehrgeizig ist auch das online-Angebot von 80,000 hours, das insbesondere von dem gleichnamigen Podcast mit inspirierenden und erfolgreichen Altruisten, einem sog. „Problem-Quiz“, sämtlichen Career reviews und sogar der individuellen Karriereberatung bereichert. Was man sich genau unter einem „Problem-Quiz“ vorstellen sollte, könnt ihr am besten auch gleich selbst ausprobieren! à https://80000hours.org/problem-quiz/

Kritik

Die Befürworter der Bewegung treiben allerdings ihre Projekte nicht ohne Kritik, denn sie stoßen auf ein ganz grundsätzliches Problem: wie kann man so subjektive und unvorhersehbare zu allermeist selbst verursachte gesellschaftliche Probleme objektiv bewerten und zwar sogar vergleichen? Warum sollten Kinder gegenüber Älteren oder Kranken, Afrika gegenüber Asien, Europa oder Amerika bevorzugt werden? Wir sehen also: ein Maßstab zu legen ist ganz und gar nicht einfach, doch nichts zu machen wäre auch ineffizient. Was, wo und wann genau die Spenden ankommen sollten, entscheiden wir allein und deswegen bleibt die Frage, ob dieser 3 Euro Capuccino tatsächlich Wunder bewirken kann, ein Paradox. Wichtig ist, dass wir das tun und geben, was wir können. Und ja, dafür gibt´s auch eine eigene Webseite (www.givingwhatwecan.org).


[1] https://www.guidingeyes.org/about/faqs/

[2] -Joseph Cook et al., “Loss of Vision and Hearing,” in Dean Jamison et al., eds., Disease Control Priorities in Developing Countries, 2nd ed. (Oxford and New York: Oxford University Press, 2006), p. 954;
-“The End in Sight,” International Coalition for Trachoma Control, July 2011, http://www.trachomacoalition.org/sites/default/files/content/resources/files/ICTC_EnglishJuly21lowres.pdf ; ——–“Cataract Surgery: How Much Does the Program Cost?” GiveWell, August 2016, https://www.givewell.org/international/technical/programs/cataractsurgery#cost ;
-“What We Do,” SEVA, accessed May 1, 2019, https://www.seva.org/site/SPageServer/? pagename=programs/prevent_blindness   

[3] https://www.givewell.org/how-we-work/process

[4] https://80000hours.org/key-ideas/#two-minute-summary